„Das wäre doch vielleicht etwas fürs Netzwerk!“
„Das wäre doch vielleicht etwas fürs Netzwerk!“
Die Praxis des Netzwerks „Voneinander Lernen“ im Schulamtsbezirk Gießen-Vogelsberg
Hans-Joachim Gruel - Direktor einer Gesamtschule a.D.
Heinz Kipp - Leiter des Staatlichen Schulamtes in Gießen a.D.
„Das wäre doch vielleicht etwas fürs Netzwerk!“ Was im Schulamtsbezirk Gießen-Vogelsberg seit 16 Jahren als guter Vorschlag gelten durfte, ist nicht länger selbstverständlich. Dass erfolgreiche Strukturen und gelungene Angebote durch personelle Wechsel, Vakanzen und Arbeitsbelastungen in Frage gestellt werden, kommt im Bildungsbereich immer wieder vor. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen „verlassen“ gewissermaßen durch die Hintertür auch bewährte Vorhaben und Projekte die Schule oder die Schulbehörde. Diese simple Feststellung gilt insofern auch für das Netzwerk „Voneinander Lernen“, das für die Schulen und Bildungseinrichtungen in diesem mittelhessischen Schulamtsbezirk seit langem ein verlässlicher und vertrauter Partner ist. Personell und altersbedingt notwendige Umstrukturierungen sind naturgemäß immer mit solchen Unsicherheiten verbunden, können andererseits aber auch ein Anlass sein, lieb gewonnene Angebote einer kritischen Bilanz zu unterziehen, um sie vor diesem Hintergrund möglicherweise zu beenden, aber auch neu und vielleicht sogar besser aufzustellen.
Das Bildungsnetzwerk „Voneinander Lernen“ geht auf ein europäisches Forschungsprojekt im Rahmen der Aktion „SOKRATES 6.1“ Ende der 90er Jahre zurück, in dem mehrere Länder unter Federführung des „Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung“ (DIPF) in Frankfurt neue Modelle regionaler Qualitätssteuerung und -entwicklung erproben und evaluieren konnten. Nachdem das Projekt mit guten Ergebnissen beendet war, sich jedoch abzeichnete, dass die Steuerung der Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich eine andere Richtung nehmen würde, kamen Staatliches Schulamt und teilnehmende Schulen im Bereich Gießen-Vogelsberg überein, einzelne Elemente des Projekts beizubehalten und auf regionaler Ebene verstärkt über Schul- und Institutionsgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten, um im besten Sinne voneinander und auch miteinander zu lernen.
Auf der Basis ihrer in dem europäischen Projekt gewonnenen Erkenntnisse orientierten sich die Sekundarstufen-Schulen, die von Beginn an dabei waren, an den Prinzipien „Freiwilligkeit“, „Praxisorientierung“ und „Arbeitserleichterung“, das Staatliche Schulamt als zusätzlicher Teilnehmer stellte die notwendigen Ressourcen bereit und räumte den Akteuren im Netzwerk die für ihre Arbeit notwendigen Freiräume ein. Eine tragende Rolle bei der Organisation der gemeinsamen Arbeit spielt seither der regionale Koordinator, der als zentrale Instanz des Netzwerkes Wünsche und Interessen, Stärken und erfolgreiche Projekte der Teilnehmer aufnimmt, ihre Bearbeitung im Netzwerk organisiert, aber auch Vorschläge macht, Entwicklungen anregt und das Netzwerk vertritt.
In seiner eher lockeren und offenen Form begleitete das Netzwerk in der Zeit seines Bestehens alle wichtigen Neuerungen im hessischen Schulsystem (Ganztagsschulentwicklung, Berufsorientierung, Gymnasialzeitverkürzung, Verlässliche Schule, Lehrerausbildung usw.) mit unterschiedlichen Angeboten und Aktivitäten, unterstützte Schulen mit konkreten Beispielen und ergänzte die Angebote von Seiten der Bildungsverwaltung. Als echte „Highlights“ gelten in der Region noch immer die von ca. 140 Lehrerinnen und Lehrern unter Federführung des Netzwerkes selbst organisierte Erarbeitung und Durchführung von schulübergreifenden Vergleichsarbeiten für unterschiedliche Schulformen in drei Hauptfächern. Der Netzwerkkoordinator und die Verantwortlichen im Staatlichen Schulamt hatten zunächst berechtigte Bedenken, dieses Thema zur Vorbereitung auf die neu eingeführten Abschlussprüfungen in Haupt- und Realschule in das Netzwerk einzubringen, hatte die Hessische Kultusministerin doch gerade mit der Pflichtstundenverordnung für Lehrkräfte vom 20. Juli 2006 die Pflichtstunden für alle Lehrerinnen und Lehrer um eine Stunde erhöht. Die zu erwartende Verweigerungshaltung blieb aber aus, zu groß war das inhaltliche Interesse der im Netzwerk organisierten Lehrerinnen und Lehrer, die die Thematik trotz der deutlichen Mehrbelastung engagiert und erfolgreich angingen. Als ähnlicher Meilenstein gilt auch die Etablierung eines Kooperationsrates zur Verbesserung der Lehrerausbildung in der Region unter Einschluss der örtlichen Studienseminare und der Universität Gießen.
Mit seinen vielfältigen Aktivitäten fand das Netzwerk schon nach kurzer Zeit Interesse bei anderen Schulen, so dass sich der Teilnehmerkreis sukzessive erweiterte. Neue Teilnetzwerke für Grund-, Förder- und berufliche Schulen mit eigenen Koordinatoren und Schwerpunkten sind längst dazu gekommen, so dass es im Schulamtsbezirk kaum noch eine Schule gibt, die nicht in irgendeiner Form punktuell oder permanent im Netzwerk mitarbeitet. Die gemeinsame Homepage www.voneinander-lernen.de enthält ca. 50 Veranstaltungen unterschiedlichster Art pro Schuljahr, die vom Netzwerk selbstständig organisiert und angeboten werden und von den Schulen nach wie vor rege genutzt werden.
Die Grundprinzipien der gemeinsamen Arbeit im Netzwerk sind als konstitutive Elemente zwar erhalten geblieben, aber wesentliche Strukturen haben sich inzwischen auch verändert. An die Stelle einer auf den Schuljahresrhythmus ausgerichteten Organisation mit einem gemeinsamen Planungstreffen, auf dem Angebote der Schulen mit der bestehenden Nachfrage abgeglichen und anschließend Aktivitäten verabredet wurden, sind flexiblere Formen der Steuerung durch permanent arbeitende Gruppen wie das „Gesprächsforum Schulleitung“, die „Kooperations- bzw. Koop AG“ oder auch die jährliche „Schulleiter-Konferenz“ getreten, bei denen aber nach wie vor dem regionalen Koordinator die zentrale Rolle zukommt. Auf der Basis der auf diesen Treffen gemachten Vorschläge koordiniert er die Arbeit des Netzwerkes, hält den Kontakt zu allen Beteiligten, sorgt für die notwendigen organisatorischen Rahmenbedingungen und Absprachen und ist als Ansprechpartner der Schulen bzw. Institutionen Multiplikator und Administrator zugleich.
Ein Blick auf die aktuellen Terminpläne der insgesamt vier Teilbereiche zeigt, wo die Stärken des Netzwerkes „Voneinander Lernen“ liegen:
- in der Orientierung an den Wünschen, Vorschlägen und Bedürfnissen der Schulen, die selbstständige Akteure im Netzwerk sind;
- in der Stärkung der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen;
- in der Flexibilität und Schnelligkeit, in der das Netzwerk auf unterschiedliche Bedarfe eingehen kann;
- in der Vermittlung von „Best Practice“-Beispielen und konkreten Hilfen;
- in der Offenheit, Vielfalt und dem Umfang der Netzwerk-Aktivitäten und Angebote;
- in der Ergänzung bestehender Fortbildungs- und Unterstützungsangebote des Staatlichen Schulamtes oder der Hessischen Lehrkräfteakademie;
- in der Pflege und Intensivierung persönlicher und informeller Kontakte über Schul- und Institutionsgrenzen hinweg;
- in der Entwicklung neuer Formen der Kooperation und der Vernetzung in zusätzliche Bereiche;
- in seiner „Basisnähe“ und der hohen Akzeptanz bei den regionalen Akteuren im Bildungsbereich.
Angesichts der vielen Vorteile und der im Vergleich zu anderen Organisationsformen im Bildungsbereich eher geringen Ressourcen, die für die Aufrechterhaltung der Arbeit im Netzwerk notwendig sind, fallen Schwächen wie die geringe Systematik bzw. Nachhaltigkeit, mangelnde Verbindlichkeit oder das Fernbleiben einiger Schulen kaum ins Gewicht. Im Gegenteil: Vieles spricht trotz der notwendigen personellen Wechsel für eine Fortführung dieses erfolgreichen Modells. Offenbar sehen das auch die Schulleitungen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Staatlichen Schulamtes und wichtige Repräsentanten der Schulträger der Region Gießen-Vogelsberg ähnlich, denn ca. 135 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der letzten gemeinsamen Schulleiter-Konferenz im Rahmen des Netzwerkes „Voneinander Lernen“ haben sich per Unterschrift für seine Erhaltung und die Bereitstellung der dazu notwendigen Ressourcen ausgesprochen. Prinzipien und Struktur des Netzwerkes garantieren, dass es auch weiterhin für die Schulen und Bildungseinrichtungen der Region ein vielleicht unorthodoxer, aber verlässlicher und hilfreicher Partner bleiben kann, den man nicht missen mag.
Literatur:
Döbrich, Peter [Hrsg.]; Schnell, Herbert [Hrsg.]: QualitätsPartnerschaft der Regionen (QPR). Europäische Indikatoren für Schulentwicklung und ihre Evaluation. Ein Sokrates 6.1 Projekt von 5 Ländern, Frankfurt, Main: GFPF 2008, (Materialien zur Bildungsforschung; 21)
Gruel, Hans-Joachim: Zur Praxis des regionalen Bildungsnetzwerks „Voneinander Lernen“ – Sekundarstufe im Schulamtsbezirk Gießen/Vogelsberg. SchulVerwaltung 1/2007
Kipp, Heinz: Steuerung von Qualitätsentwicklungsprozessen in Schulnetzen am Beispiel des Netzwerkes „Voneinander Lernen“ in der Region Gießen/Vogelsberg. SchulVerwaltung, 1/2007